Zu den Arbeiten von Thomas K. Müller - Eine Begegnung


„Portugiesische Figur“, „Androgyner Traum“, „Der Tanz“, „Frauenträger“- Benennungen und Titel einiger Skulpturen Thomas K. Müllers. Die Sprache in ihrer Einheit von Formativ und Bedeutung kann als Bezeichnung das semantische Volumen eines künstlerischen Gegenstands erweitern, Assoziationsräume vergrößern. Doch wie steht es mit dem Verhältnis von Sprache und bildender Kunst? Ist es möglich, sich „in einer eindringlichen Sprache überzeugend einem künstlerischen Werk zu nähern“, die Aura eines Werkes mittels Sprache nochmals herzustellen? So spricht bspw. Friedrich Teja Bach in seiner Auseinandersetzung mit Brancusis Werk von der „Widerständigkeit der Kunst gegen den Zugriff der Worte“ und von der Unmöglichkeit, über bildende Kunst so zu schreiben, daß den Skulpturen eine Satzprägung, den Arbeiten die Dichte eines literarischen Textes entspricht. „ich trau mir keine sätze zu für die du bist“ oder „in welcher etage hast du immer gesagt beginnt das meer?“

Thomas K. Müllers ästhetische Arbeiten sind Selbstbefragung und -ironisierung zugleich. Sie zeigen Momente der Erinnerung an einen Ort oder eine Landschaft und sind zugleich Ausdruck von Poesie und Sensibilität. Müller besitzt die Fähigkeit, in seinen Arbeiten einen gültigen plastischen Ausdruck sowohl für persönlich Erfahrenes als auch Atmosphären unseres Seins zu finden. „Entscheidend dabei ist jedoch, daß die Erfahrung als lebendige Erinnerung in (seinen) Werken aufgehoben, in der Strenge künstlerischer Form austariert wird und so alles Private abfällt.“ (Carsten Ahrens)
Vogelfrau von Th. K. Müller
Die Motive wiederholen sich, verschiedene Themenkreise konvergieren: das Weibliche, die Last des Tragenden... Plastiken, die in ihrer Größe den Betrachter erdrücken und manchmal eine dumpfe Schwermut hinterlassen, neben Arbeiten, die in ihrer Leichtigkeit beinahe zu schweben scheinen. Betrachtet man die Skulpturen genauer, findet man ein Zusammenspiel von belebender Unregelmäßigkeit und reiner Formprägung; Torso und Fragment, Skulpturen mit rauhen Oberflächen, ob in Gips, als Bronze oder in Marmor, sind Zeichen einer Materialitäts- und Formensprache, die nicht mehr aus der Tradition mimetischer Wiedergabe stammt.


Und unabhängig von vertrauten Erzählmustern lesen sich die plastischen Arbeiten Müllers -mittels Interpretation- wie ein poetischer Text, bei dem der Betrachter ein Maximum an Freiheit gewinnen kann.

Müller betont den „Automatismus“ beim Entstehungsprozeß, das flüchtig Skizzenhafte, den subjektiven Einfall, die Spontanität des Entwurfs. Modellieren und Zerspalten, Zusammenfügen, Zerstören und Stürzen sind gleichberechtigte Vorgänge beim Schaffensprozeß des Künstlers. Wobei er das Modellieren einer Figur bevorzugt. Die Arbeit am Stein beschreibt Müller als „unsicheres Tasten“, bei dem für seine Phantasie nur ungenügend Raum bleibt. Denn eine „Verletzung des Steins“ ist irreperabel.

Müllers Mißtrauen gilt dem abgeschlossenen Werk, dem Fertigprodukt. Für ihn gibt es kein Festhalten an ästhetischen Autoritäten, diese können bestätigt oder eben gestürzt werden. Wobei gerade durch den Akt der Zerstörung („Großer Frauenträger“) die Skulptur ihre Identität ändert und eine neugewonnene Dimension sichtbar wird („FrauenTrägerSturz“). Ebenso verhält es sich mit der Titelfindung bzw. -gebung. Die Titel werden Bestandteil des Werkes. Sie sind inhaltlicher Reflex der Weite des Themas, das die Figur in sich trägt, sie sind Tagebuchnotiz und Erinnerungsbild. Titel wie „Räude-Bodenkontakt“ oder „Kleine Vogelfrau“ sind außerordentlich stark. Sie fungieren als wesentliches Moment und Sinnbegründung zugleich. „Sie sind wie eine unsichtbare Farbe.“ (Duchamp). Müller formt Erinnerungen, gibt Ängsten, Verlusten und Zweifeln Gestalt, und findet durch das künstlerische Tätigsein einen Zugang zur eigenen Geschichte, eine Artikulationsmöglichkeit, denn „die Erinnerungen sind der Keim einer Skulptur“ (Bourgeois). Wobei der Akt der Darstellung und der Vorgang der Darstellung selbst wesentlich ist, ein Existenzraum, ein Schwebezustand, bei dem der Künstler mit der Skulptur in ein inhaltliches und formales Wechselspiel tritt. „Wir sprechen nicht davon, daß wir eine Skulptur „planen“; wir sprechen von dem Bedürfnis, einer sehr tiefen Empfindung, einer Erfahrung Ausdruck zu verleihen. Wir sprechen von Realisierung. Und für sie gibt es keine feste Strategie, sondern sie gleicht eher einem Tasten nach Stimmigkeit.“(Louise Bourgeois)

Thomas K. Müllers Arbeiten sind Ausdruck der Suche nach neuen Symbolen und Formen der Darstellung „tiefer Empfindungen“, des Nonverbalen, und sie machen -in ihrer geistig-sinnlichen Komplexität- die Wirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit sichtbar und offenbaren zugleich ihr Geheimnis, ihre Poesie.

Ulla Martinson
Berlin, Mai 1998